Gyula Pápay: Ungarn auf Karten - Eröffnung der Ausstellung in Berlin am 29. Juli 2004

In der ungarischen Sprache wird die "Karte" nicht mit einem Lehnwort, sondern mit einer eigenen Wortbildung, mit "térkép" bezeichnet. Die wörtliche Übersetzung lautet: "Raumbild". In der Wissenschaft Kartographie wird der Bildbegriff äußerst restriktiv verwendet, eigentlich nur in Zusammenhang mit der Beschreibung der äußeren Erscheinung von Karten, wenn man z. B. über Kartenbild spricht. Das hat viel mit unserer verbalsnobistischen Kultur zu tun, in der Text und Bild Jahrhunderte lang nicht als gleichberechtigt betrachtet wurden. Heute leben wir in einer Umbruchsphase. Durch die rasante Entwicklung von den sog. neuen Medien, durch die Formierung einer allgemeinen Bildwissenschaft enthält der Bildbegriff zunehmend an Bedeutung. Auch die Kartographie muss ihre Bildbeziehung neu überdenken und ihre Rolle in den Bildwissenschaften als älteste Bildwissenschaft konsequenter wahrnehmen. Die ungarische Bezeichnung der Karte ist also ein guter, ein treffender Begriff.

Die Karte ist das bestgeeignete Mittel, sich über ein ganzes Land rasch ein Bild zu machen. Die Karten dieser Ausstellung liefern ein gutes Bild über Ungarn, nicht nur in räumlicher Hinsicht, sondern auch in raumzeitlicher Hinsicht. Die historische Perspektive erfasst auch den Aspekt, wie das kartographische Bild Ungarns ständig verbessert wurde. Die erste überlieferte Karte Ungarns von Lazarus (1528) gehört zu den ersten großen Karten der in der Renaissance aufblühenden Regionalkartographie in europäischem Maßstab. Sie gehört überhaupt zu den allerersten Länderkarten. Nur die Karte von der Schweiz ist älter. (Türst, 1495/97) Goethe hat in seinem Roman "Die Wahlverwandtschaften" darauf hingewiesen, dass die Anfertigung einer Karte über ein Gebiet die eigentliche Besitznahme dieses Gebietes ist. Die Lazarus-Karte ist also ein Dokument der eigentlichen, der kartographischen Besitznahme von Ungarn. Sie weist zwar einige räumliche Deformationen auf, aber mit ihr schuf Ungarn den Anschluss an die westeuropäische Kartographie, die bis zu der Gegenwart nicht verloren gegangen ist. In der Lazarus-Karte erscheint Ungarn in einer solchen Qualität, in der zahlreiche west- bzw. mitteleuropäische Regionen wesentlich später wiedergegeben wurden.

Wie die Karten der Ausstellung eindrucksvoll zeigen, erwachte in Westeuropa sehr früh ein kartographisches Interesse für Ungarn. Das hing mit der Türkengefahr zusammen. In den deutschen Ländern wurde das Vordringen der Türken mit besonderem Interesse verfolgt. Davon zeugt z. B. die Korrespondenz vom Melanchthon. In zahlreichen Briefen befasste er mit dieser Gefahr und verlangte neue Informationen.

Ein weiteres Beispiel. 1560 reiste der mecklenburgische Herzog Johann Albrecht an die ungarisch-türkische Grenze, bis Komárom. Er wurde von einem der besten deutschen Kartographen der damaligen Zeit, Tilemann Stella begleitet, der übrigens ein Melanchthon-Schüler war, und diese Reise kartographisch dokumentierte. Dass die Lazarus-Karte überhaupt überliefert wurde, verdankt sie höchstwahrscheinlich ebenfalls der Türken-Gefahr bzw. dem Interesse der westlichen Nachbarn an Ungarn infolge des Vordringens des Islams.

Die Türkenzeit behinderte die Entwicklung der ungarischen Kartographie. Sie geriet an die Peripherie der europäischen Kartographie, deren Zentrum sich in den Niederlanden, Frankreich, England und in den deutschen Ländern befand. Es gab jedoch bereits in dem 18. Jahrhundert Ansätze zur Überwindung der peripheren Lage durch die Aktivitäten solcher hervorragender Kartographen wie Samuel Mikoviny und János Mátyás Korabinszky. Die in der Ausstellung gezeigte Karte von Korabinszky "Wasser und Producten Karte des Koenigreichs Ungarn" bedeutete eine Innovation in der thematischen Kartographie, indem sie ein umfassendes Bild über die Ressourcen Ungarns lieferte. Österreich und insbesondere Wien bildeten eine wichtige Brücke für die ungarische Kartographie. An der Wiener Militärakademie wurden mehrere Ungarn kartographisch ausgebildet. Es gab sogar einen Ungarn, der hier Kartographie lehrte. In dem Wiener Militärgeographischen Institut waren mehrere ungarische Kartographen tätig. Zu ihnen gehörte auch einer der bedeutendsten ungarischen Kartographen des 19. Jahrhunderts Ágoston Tóth. Sein 1869 erschienenes kartographisches Handbuch war ein Vorläufer des von Max Eckert verfassten "Kartenwissenschaft", das in zwei Bänden 1921 und 1925 erschien und als Begründungswerk der Wissenschaft Kartographie gilt. Mit Ágoston Tóth erreichte die ungarische Kartographie auch in theoretischer Hinsicht den Anschluss an das kartographische Zentrum Europas. Sein Handbuch war die erste systematische und integrative Darstellung der Kartographie. Die Beziehung der ungarischen Kartographie zu dem Zentrum hatte leider noch lange Zeit einen Einbahnstraßencharakter. Vor dem Abfassen seines Handbuches unternahm Tóth eine zweimonatige Reise in Zentren der europäischen Kartographie. Stationen seiner Studienreise waren u. a. Wien, München, Winterthur, Stuttgart, Paris, Brüssel und Berlin. Hier in Berlin besuchte er den bedeutenden Kartographen Emil von Sydow. Von ihm wurde er herzlich aufgenommen. Ansonsten wurde er in Berlin mit großer Zurückhaltung empfangen. Der Grund bestand dafür nicht allein in dem noch gespannten Verhältnis Preußens zu Österreich-Ungarn. Beim Durchgang durch einen Drucksaal bemerkte er zufälligerweise, dass französische Karten gedruckt worden waren. Die kartographische Vorbereitung des Angriffs auf Frankreich lief also bereits 1867. Der Informationsfluss von den Zentren nach Ungarn war umfassend, leider aber nicht umgekehrt. Das Handbuch von Ágoston Tóth wurde im Ausland nicht bekannt, obwohl er das Buch nicht nur in ungarischer, sondern auch in deutscher Sprache verfasste. Er konnte jedoch nur die ungarische Variante publizieren und das auch nur mit der finanziellen Hilfe seiner Wiener Schwiegermutter. Außerdem musste Tóth sein Werk in den Petermanns Miteilungen notgedrungen selbst rezensieren. Die Zeiten in den Beziehungen der ungarischen Kartographie zu den Zentren der europäischen Kartographie mit solchen, beinahen tragikomischen Zügen wurden jedoch bald überwunden. Bereits 1900 wurden auf der Pariser Weltausstellung ungarische Karten mit Goldmedaillen ausgezeichnet.

In dem 20. Jahrhundert konnte der Einbahnstraßencharakter der Beziehungen der ungarischen Kartographie zu den kartographischen Zentren der Welt abgebaut werden, daran hatten viele ungarischen Kartographen einen großen Anteil, namentlich möchte ich stellvertretend nur einige wenige nennen: Manó Kugotowicz, Lajos Lóczy, Pál Teleki, László Irmédi-Molnár, Sándor Radó, István Klinghammer und Árpád Papp-Váry. In Zusammenhang mit Herrn Klinghammer möchte ich noch eine Bemerkung machen. Er vertritt laut Einladung zu dieser Ausstellung an der Loránd Eötvös Universität Budapest den Lehrstuhl für Kartographie und Geoinformatik. Die Übersetzung des Lehrstuhlnamens ist jedoch nicht ganz korrekt. Die wörtliche Übersetzung lautet: Lehrstuhl für Kartenwissenschaft und Geoinformatik. Ich kenne keine andere kartographische Einrichtung weder in dem deutschen Sprachgebiet noch anderswo in der Welt, die in ihrer Bezeichnung den von Max Eckert gebildeten Begriff führen würde. Das epochemachende Werk Eckerts "Die Kartenwissenschaft" erschien übrigens in Berlin und Leipzig. Auch dieser mehr nominale Aspekt deutet die engen Beziehungen zwischen der deutschen und der ungarischen Kartographie an.

Die Karten dieser Ausstellung setzen Ungarn aspektreich kartographisch ins Bild. Die historische Dimension steht im Vordergrund. Haben diese Karten dennoch eine verborgene aktuelle Botschaft für uns? Ich glaube schon. Mehrere Karten der Ausstellung zeigen, dass die ungarische Nation Jahrhunderte lang in einer Gemeinschaft mit anderen Nationen, mit sehr unterschiedlichen Religionen und Wertauffassungen zusammengelebt hat. Diese historischen Erfahrungen bieten eine große Chance für Ungarn für eine rasche und umfassende Integration in der Europäischen Union.