Der Atlas, der von der Geographischen Gesellschaft Finnlands zusammengestellt
und veröf-fentlicht wurde, war international gesehen eine bedeutende kartographische
und wissenschaftliche Leistung. Finnland, damals ein Russland angeschlossenes
autonomes Großfûrstentum, profilierte sich dadurch als eine Nation
und als ein Land mit einer Wissenschaft auf hoher Ebene. In dieser Hinsicht war
der Atlas auch ein deutliches politisches Manifest in einer Zeit, in der die Autonomie
des Großfürstentums von russischer Seite immer mehr beschränkt
wurde.
Das frisch gedruckte französischsprachige Werk wurde im Oktober 1899 von
zwei finni-schen Professoren auf dem Internationalen Geographenkongress in Berlin
einem autoritativen wissenschaftlichen Publikum aus allen Teilen der Welt vorgestellt.
Die Reaktionen auf den Atlas sollen dabei äusserst positiv gewesen sein.
Kein anderes Land hatte bis dahin sein Territorium durch thematische kartographische
Darstellungen so vielseitig dargestellt. Der weltberühmte Geograph Professor
Albrecht Penck von der Universität Wien erinnerte in der Diskussion an die
Empfehlung des in Bern 1891 abgehaltenen Internationalen Geographenkongresses,
jedes Land solle eine vielseitige flächendeckende geographische Beschreibung
zusammenstellen, und stellte fest, dass Finnland das erste und einzige Land sei,
das sich danach gerichtet habe. Der neue Atlas weckte auch prompt das Interesse
der deutschen und österreichischen Presse. Bereits am folgenden Tag berichteten
einige Zeitungen darüber, und später erschienen Rezensionen.
Die Verhältnisse, in denen das Atlasprojekt wurzelte
Bis 1809 bildete Finnland den östlichen Teil des Königreichs Schweden.
Als Ergebnis des russischen Sieges im napoleonischen Krieg 1808-09 zwischen Russland
und Schweden wurde das Gebiet, das dem heutigen Finnland mit einigen Ausnahmen
entspricht, von Schweden abgetrennt und als autonomes Großfürstentum
dem Russischen Reich angegliedert. Der politische Status Finnlands veränderte
sich dadurch radikal: Die früheren östlichen Teile des schwedischen
Reiches wurden zum ersten Mal in der Geschichte ein autonomer Staat mit eigenen
Grenzen. Kaiser Alexander I., der erste Großfürst von Finnland, hatte
eine sehr grosszügige und liberale Einstellung dem neuen Großfürstentum
gegenüber. Er deklarierte 1809 feierlich in einer berühmten auf Französisch
gehaltenen Rede, Finnland sei in den Stand der Nationen erhoben worden, und er
versprach auch eine weitgehende Autonomie des Großfürstentums. Die
lutherische Kirche, Schwedisch als offizielle Landes- und Amtssprache und die
alte Zivil- und Strafgesetzgebung sollten weiterhin beibehalten werden.
Anfangs waren die russischen Kaiser Finnland gegenüber sehr großzügig.
Unter anderem wurde die - damals einzige - finnische Universität gefördert,
besonders nach ihrem Umzug von Turku nach Helsinki im Jahre 1828. Die Zahl sowohl
der Professoren als auch der Studenten wuchs schnell. Das Gefühl, eine eigenständige
Nation zu sein oder wenigstens zu werden, also die natio-nale Identität,
entwickelte sich und wurde immer stärker, besonders unter den Universitätsangehöri-gen.
Es gibt einen Spruch aus jener Zeit, nämlich: "Schweden sind wir nicht,
Russen wollen wir nicht werden, lasset uns also Finnen sein".
Ein bedeutender Meilenstein war die Zusammenstellung und Veröffentlichung
des finn-ischen Nationalepos Kalevala in den Jahren 1835 und 1849. Bis 1863 war
Schwedisch die Verwal-tungs- und Amtssprache Finnlands, aber in diesem Jahr wurde
die finnische Sprache dem schwedi-schen als offizielle Sprache des Großfürstentums
gleichgestellt. Es ist zu notieren, dass Russisch in Finnland, trotz mehrerer
Versuche von russischer Seite, nur in sehr begrenztem Umfang die Stellung einer
Amtssprache gehabt hat, z.B. teilweise bei der Post und der Eisenbahn.
Die Entwicklung sowohl der Wissenschaft als auch der nationalen Identität
führte zur Gründung zahlreicher wissenschaftlicher Gesellschaften im
Laufe des 19. Jahrhunderts. Geographie als akademisches Fach gab es an der Universität
erst ab 1894, aber Vertreter verschiedener anderer Wissenschaften hatten sich
die geographische Erforschung Finnlands zum Ziel gesetzt. Diese Entwicklung erweckte
auch ein internationales Interesse. Daraufhin wurde die Wissenschaftsakademie
Finnlands, die 1838 gegründete Finnische Wissenschafts-Sozietät, eingeladen,
beim Internationalen Geographenkongress in Venedig 1881 Material über Finnland
auszustellen. Für diesen Zweck wurde eine Publikation zusammengestellt und
herausgegeben, die Exposition géographique finlandaise. Außerdem
wurden 27 Karten und 19 weitere Exponate in Venedig ausgestellt. Die Reaktionen
hierauf waren sehr positiv und trugen dazu bei, dass die Geographische Gesellschaft
Finnlands im Jahre 1888 gegründet wurde. Es folgte noch eine erweiterte Präsentation
auf internationalem Terrain, nämlich beim Internationalen Geographenkongress
in London 1895. Hierfür erschien ebenfalls eine Publikation, das Exposé
des travaux géographiques exécutés en Finlande jusqu'en 1895;
es wurden 63 Karten, Diagramme und andere Veröffentlichungen ausgestellt.
Dieses Material bildete dann den Kern des Atlasses von Finnland, dessen Herausgabe
die Geographische Gesellschaft Finnlands bald nach der Ausstellung in London beschloss.
Der finnische Nationalatlas
Eine wichtige Begründung für den Bedarf einer vielseitigen kartographischen
Darstellung des eigenen Landes war das sehr mangelhafte Finnlandbild im Ausland.
Viele Schul- und Weltatlanten vermittelten den Eindruck, dass Finnland ein Teil
von Russland sei - an sich nicht falsch, aber so wollte man es in Finnland nicht
sehen. Es bestand deshalb das Bedürfnis, der Welt zu zeigen, dass Finnland
eine autonome Nation mit einer eigenen Kultur war. Ähnliche Profilierungen
Finnlands fanden auch auf den Weltausstellungen in Paris in den Jahren 1889 und
1901 statt.
Wenn auch die Periode unter russischer Herrschaft im Anfang für die Entwicklung
Finnlands sehr günstig war, verschlechterte sich das politische Klima gegen
Ende des 19. Jahrhunderts, und der Griff Russlands auf Finnland verschärfte
sich. Die Russifizierung drohte, und die Autonomie wurde bedrängt, was selbstverständlich
eine starke Gegenreaktion zur Folge hatte. Die Zusammenstellung und Veröffentlichung
des Atlasses von Finnland gliederte sich gut in diese Gegenreaktion ein.
Der finnische Atlas 1899 wurde nicht Nationalatlas genannt, wahrscheinlich aus
taktischen Gründen, um die russischen Machthabern nicht zu ärgern. Später
wurde er aber als erster Nationalatlas in der Welt anerkannt. Seine Veröffentlichung
war eine wichtige Manifestation der finnischen Nation. Man kann behaupten, dass
der Atlas eine wichtige Etappe in der Entwicklung darstellte, die in der Unabhängigkeitserklärung
Finnlands vom 6. Dezember 1917 kulminierte.
Eine oft gestellte Frage ist, wie die russischen Behörden auf die Veröffentlichung
des Atlasses reagierten. Es ist erstaunlich, wie wenige Reaktionen erfolgten,
war der Atlas doch Ausdruck separatistischen Denkens und konnte von russischer
Seite leicht als Provokation aufgefasst werden. Die einzige bekannte Reaktion
war jedoch ein offizieller Protest gegen die Darstellung der Staatsgrenzen. In
der ersten Atlasausgabe waren die Grenzen Finnlands mit Schweden und Norwegen
in derselben Liniensymbolik wie die Grenze mit Russland dargestellt. Nach russischer
Auffassung hätte die Grenze mit Russland mit einer dünneren Linie dargestellt
werden sollen. In der zweiten Ausgabe 1910 wurde dieses Verlangen berücksichtigt
- aber nur formell, mit bloßem Auge kann man den winzigen Unterschied kaum
wahrnehmen.
Das Atlasprojekt blieb also nicht bei der Ausgabe 1899 stehen. Es folgten insgesamt
fünf weitere, völlig neubearbeitete Auflagen in den Jahren 1910, 1925,
1960, 1977-94 und 1999. Alle diese waren dreisprachig mit der Ausnahme des festschriftähnlichen
Säkularjubiläumsatlasses 1999, der bisher nur auf Finnisch vorliegt.
Davon ist aber eine englischsprachige Version in Vorbereitung mit einer Kartenbeilage
in CD-ROM-Format. Neben Finnisch und Schwedisch war Französisch die dritte
Sprache in den zwei ersten Atlasausgaben, sie wurde aber in den späteren
Ausgaben durch Englisch ersetzt. Es gibt kaum einen anderen Nationalatlas, der
so konsequent durch die Jahre weitergeführt worden ist.
Der vielseitigste Atlas von allen war die 5. Edition, die als 25 separate Hefte
in den Jahren 1977 bis 1994 herausgegeben wurde. Die Hefte umfassen 16 bis 68
Seiten mit Karten, Diagrammen, Fotografien, Luftbilder und Text. Alle Karten und
sonstige Abbildungen haben Erläuterungen af Finnisch, Schwedisch und Englisch,
aber der eigentliche Textteil ist in Finnisch abgefasst. Vielen Heften schliesst
sich auch ein separates Textheft auf Schwedisch oder Englisch oder beide Sprachen
an. Aus Drucktechnischen Gründen wurde ein Teil der Seiten mit zwei, ein
anderer Teil mit vier Farben gedruckt.
Ein Heft der 5. Atlasedition: Die Formen der Landoberfläche
Kartographische Beispiele aus den Atlanten 1899 - 1999
In den verschiedenen Atlasausgaben kann man verfolgen, wie sich das erdkundliche
Wissen vermehrte und vertiefte und wie sich das Land und sein Wirtschaftsleben
veränderten. Auch die Entwicklung der Kartographie kommt gut zum Ausdruck.
Eine Analyse der inhaltsmässigen und methodologischen Entwicklung der finnischen
Atlanten zwischen 1899 und 1960 ist von Yli-Jokipii (1986) veröffentlicht
worden. Auch Witschel (1998) hat den Inhalt und die Darstellungsweisen der finnischen
Nationalatlasausgaben besprochen.
Unten werden einige kartographische Beispiele aus den Atlanten kurz vorgeführt.
Die Beispiele geben auch einen Einblick in die Anwendung von Farben in den Atlasausgaben.
Die Grenzenveränderungen Finnlands werden auch durch die Kartenbeispiele
ersichtlich.
Über die Wälder, eine wichtige Basis der finnischen Volkswirtschaft,
gab es im Atlas 1899 einige qualitative Darstellungen. Im Atlas 1925 gab es eine
große Zahl von relativen Darstellungen, von denen zwei Beispiele, die Gesamtmenge
des wachsenden Holzes (m3/ha) und der jährliche Zuwachs (m3/ha) hier ausgewählt
sind.
Modernere Kartogramme mit Kombination von absoluter und relativer Darstellung
gab es in der 5. Atlasausgabe (1976). Die Beispiele hier zeigen Besitzverhältnisse
und Holzartenverteilung der Wälder.
Die Landwirtschaft ist ein wichtiges Thema in sämtlichen Atlasausgaben gewesen.
Ernten und Haustiere wurden kartographisch schon 1899 dargestellt: Ernte von Roggen
und Gerste in % der Gesamternte der Getreide (links und in der Mitte), Bestand
an Rindern im Verhältnis zur Zahl der Einwohner (rechts)
Als Vergleich eine quantitative Darstellung der Ernten aus der 5.Auflage (1982):
Getreideernten, absolut und relativ dargestellt
Über das Klima gab es vom Anfang an Darstellungen. Als Beispiel ist hier
eine angewandte Klimakarten aus der 5. Atlasausgabe (1976) ausgewählt: Anfang
und Ende der Skisaison im langjährigen Durchschnitt, wo die großen
Unterschiede zwischen den südwestlichsten und nordwestlichsten
Gebieten Finnlands deutlich zum Ausdruck kommen.
Die bisher letzte Atlasausgabe 1999 war eher ein Festschrift mit aktuellen Beiträgen
von jüngeren Forschern als ein systematisch aufgestellter Atlas. Eine Kuriosität
aus dieser Jubiläumsausgabe: Fennoskandien in der Kontinentalwanderung (hauptsächlich
auf Basis paläomagnetischer Messungen).
Was ist ein Nationalatlas ?
Das Lexikon der Kartographie von Werner Witt (Witt 1979) definiert den Begriff
(etwas abgekürzt) in einer sehr klaren Weise:
"Nationalatlanten sind komplexe thematische Atlanten für das Gebiet
eines Staates. [
] Ihr Ziel ist eine Gesamtdarstellung der räumlichen
Strukturen des jeweiligen Staatsgebietes".
Im ersten Band des neuen Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland (2000) wird
die Frage "Was ist und was will ein Nationalatlas" beantwortet, und
dabei wird der Begriff etwas ausführlicher, aber inhaltlich ganz ähnlich
definiert.
Wesentlich für die Definitionen ist, dass ein Nationalatlas keinesfalls nur
eine landesabdeckende Sammlung von Landkarten ist, sondern aus thematischen Karten
besteht, also aus Karten, die verschiedene qualitative oder quantitative, konkrete
oder abstrakte Fakten, Phänomene oder Bewegungen durch Symbole darstellen.
Hinter den thematischen Karten steht eine intensive Forschungsarbeit. Die Karten
eines Nationalatlasses werden durch einen Text ergänzt.
Der finnische Nationalatlas von 1899 und seine fünf Nachfolgeausgaben zwischen
1910 und 1999 erfüllen deutlich die Nationalatlaskriterien der Definitionen.
In zahlreichen wissenschaftlichen Abhandlungen und Aufsätzen und in Westermanns
Lexikon der Geographie wird hervorgehoben, dass der finnische Nationalatlas von
1899 der erste Nationalatlas der Welt war.
Nach Finnland 1899 folgten in der Herausgabe eines Nationalatlasses während
des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts Kanada und Polen, aber der größte
Teil der Nationalatlanten wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg herausgegeben.
Was Kanada und Polen betrifft, könnten die Motive der Atlasveröffentlichung
ähnlich wie in Finnland gewesen sein, nämlich eine Manifestation der
Existenz und des Charakters der eigenen Nation.
Die Macht der Karten
Ein amerikanischer Kartograph hat ein Buch herausgegeben, genannt The power
of maps (Wood 1993). Der Ausdruck "The power of maps", die Macht der
Karten, könnte auch als Motto eines Nationalatlasses dienen. Geographen und
Kartographen wissen gut, dass Karten vielseitige Möglichkeiten anbieten,
bestimmte Auffassungen zu propagieren und den Menschen geschickt und unbemerkt
zu manipulieren, kurz gesagt, Macht und Einfluss auszuüben (cf. Black 1997).
Ein frühes Beispiel davon ist die gut bekannte anthropomorphe Europakarte
von Sebastian Münster vom Jahr 1588, wo Europa in der Gestalt einer Königin
dargestellt wurde. Die Karte wurde von Münster in seinem Werk Cosmographia
1628 veröffentlicht. Dieselbe Idee ist auch von anderen Kartographen benutzt
worden. Europa als Königin soll die Fähigkeit Europas zeigen, über
die sonstige Welt zu herschen. Es ist auch als ein Zeichen der Macht der Habsburger
genommen worden. Eine bombastische Karte, könnte man behaupten.
Der finnische Nationalatlas 1899 war ein wissenschaftlich begründetes deutliches
Manifest, keine propagandistische Manipulation. Er bekam seine Aussagekraft durch
seine Sachlichkeit und seinen Faktenreichtum. Es handelt sich also nicht um ein
bombastisches Manifest. Der Charakter des Atlasses steht in Harmonie mit den Gedanken
eines grossen finnischen, von Hegel beeinflussten Denkers und Gelehrten des 19.
Jahrhunderts, Johan Vilhelm Snellman. Er hat festgestellt: "Durch Gewalt
kann Finnland nichts erreichen, seine einzige Zuflucht ist die Macht der Bildung".
LITERATUR
Black, Jeremy (1997). Maps and Politics. London: Reaktion Books.
Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland, 1. Gesellschaft und Staat. Herausgegeben
von Institut für Länderkunde, Leipzig. Heidelberg und Berlin: Spektrum
Akademischer Verlag.
Witschel, Christian (1998). Nationalatlanten - Entwicklung, Konzeption, Gestaltung,
Funktion. Köln: Verlag Sven von Loga.
Witt, Werner (1979). Lexikon der Kartographie. Wien: Franz Deuticke.
Wood, Denis (1993). The power of Maps. London: Routledge.
Yli-Jokipii, Pentti (1986). Finnish thematic atlases: an examination of their
content and methodology. Fennia 164:1.
Auskunft über den finnischen Nationalatlas im Internet (auf Englisch):
http:// www.helsinki.fi/ml/maant/geofi/atlas.html